Achtsamkeit im Yoga

29. May 2018 | Claudia Eva Reinig | Yogainspiration

Seit einem Schlüsselerlebnis hat Achtsamkeit für mich eine besondere Magie. Ich bemerke, wie durch Achtsamkeit – trotz oder dank Bewegung – Stille, Glück und Friede entstehen können. Bei einer meiner ersten Meditationen vor über 28 Jahren machte ich eine prägende Erfahrung. Das war an einem Yoga- und Meditationsseminar bei meinem damaligen Yogalehrer aus England. Die Aufgabe war, zu sitzen und sich auf einen inneren Lichtpunkt zu konzentrieren. Nach einer Weile spürte ich eine unbeschreibliche Fokussierung auf genau dieses Licht, das ja eigentlich gar nicht da war, sondern nur im Inneren erschien. Diese Erfahrung war enorm, denn ich spürte ein erstes Mal, wie trotz der Konzentration auf eine sehr kleine Stelle eine immens grosse Weite entstand. Es war mir möglich, den momentanen Augenblick ganz genau wahrzunehmen, ohne mich ständig in irgendwelchen Gedankenschleifen zu verirren. Ich spürte meinen eigenen Atem, auf diese Art zum allerersten Mal: Ganz zart strömte er ein und aus. Für mich war dies eine Offenbarung. Die bewusste Achtsamkeit auf das Licht und das damit verbundene Wahrnehmen der Atmung und des Körpers führte zu einer Sammlung, die ich nicht gekannt hatte.

Diese Erfahrung motivierte mich, bei der Meditation und beim Yoga zu bleiben. Ich versuche, Achtsamkeit und tiefe innere Freude in jeden einzelnen Bereich meiner Yogalektionen sowie auch im Alltag einfliessen zu lassen. Beim Praktizieren von Asanas mache ich die Erfahrung, dass sich das ganze Gewahrsein ausdehnen kann: Wenn ich den ganzen Körper wahrnehme und versuche, nicht gedankenverloren in einer Haltung zu verweilen und keine mechanischen Bewegungen von A nach B auszuführen – sondern sehr sensibel und bewusst den gesamten Körper auf einmal zu spüren. Halte ich diese Präsenz die ganze Zeit aufrecht, dehnt sich die Achtsamkeit aus und man spürt sich selbst wie in einem "Gewahrseinsfeld".

Im Alltag, wieder draussen in der Welt, zeigt sich dies zum Beispiel bei Besorgungen: Wenn ich beim Schieben des Einkaufswagens zeitgleich meinen Atem spüre, den Kontakt der Fusssohlen auf dem Boden beim Laufen bemerke, die Berührung der Hände auf dem Einkaufswagen fühle, meine Haut in der Kälte der Aircondition spüre. Und gleichzeitig höre, wie sich zwei Kundinnen über Zitronen unterhalten. Die Achtsamkeit dehnt sich dann so weit aus, dass ein riesengrosser Gewahrseinsraum entsteht. Durch Achtsamkeit im Alltag entsteht eine tiefgreifende Veränderung und Entwicklung der Persönlichkeit. Denn genau dort können wir dann das Geübte und Erkannte anwenden: Ich dehne also die Achtsamkeit auf alle möglichen Bereiche des Lebens aus: sei es mit Partner, Familie, Freunden oder im beruflichen Umfeld. Wesentlich ist für mich dabei, mir selbst, dem anderen und auch den Pflanzen und Tieren eine besondere Wertschätzung, Toleranz und Empathie entgegenzubringen. Dies ist nur möglich, wenn ich die Achtsamkeit bewusst darauf hinlenke: Ich achte darauf, dass bei meiner Ernährung so wenig Leid wie möglich entsteht, indem ich keine Tiere esse. Ich versuche für Freunde und Familie da zu sein, wenn sie mich brauchen und höre anderen zu. Ich sage mit Klarheit, wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin.

Die Wirkung der Yogapraxis und der Fokus auf die Alltags-Achtsamkeit befruchten sich gegenseitig. Wenn ich beim Yoga oder bei der Meditation die Atmungsachtsamkeit übe und beobachte, ob und wo mein Atem fliesst, ob er gerade eher weich und leicht oder vielleicht eher stockend und uneben ist, erfahre ich dies häufig auch automatisch im Alltag: Ohne mich direkt auf den Atem zu fokussieren, ist die Achtsamkeit oft dort; gleichzeitig nehme ich meine eigenen Gefühle und inneren Zustände wahr. So kann ich auch erkennen, durch welche äusseren Begebenheiten sich Gefühle und Gedanken verändern, da ich durch die Achtsamkeit auf den Atem ganz nahe bei mir bin. Dies ist ein sehr zentrierter Zustand.
Beim Anleiten von Yoga registriere ich diese gesteigerte Wahrnehmung ganz besonders. Wahrscheinlich unterrichte ich deshalb gerne Vinyasa Yoga, wo ich selbst in Stille und Bewegung bin – im selben Augenblick. Wenn ich aus dem Moment heraus schöpfe und intuitiv wahrnehme, welche Stellung, welcher Flow, welches Wort gerade erforderlich ist, dann spüre ich selbst diesen Flow. Dann ist vieles gleichzeitig möglich:
Eine Bewegungsfolge anleiten, die sich in dem Moment didaktisch entwickelt; sie selbst fühlen, obwohl ich sie nicht ausführe, da ich gerade umherlaufe, um zu korrigieren und zeitgleich erkenne, welche der Teilnehmer eher über- und welche eher unterfordert sind. Und mich zudem erinnere, wer die Übung nicht machen soll und darauf hinweise. Und dann das Fenster einen Spalt öffne, da ich die gesättigte Luft bemerke. Dabei sage ich weiter an und drehe simultan die Musik leiser. Und während der ganzen Zeit nehme ich meinen eigenen Atem wahr.

Dies sind achtsame Momente der absoluten Präsenz, die mich glücklich machen – und, trotz der Komplexität, eine Spur von Einfachheit, Freiheit und Liebe schnuppern lassen.

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